Zito Marx - Salto Musicale

BlogWarts Corner #36

BlogWarts Corner #36


Ich liebe »copy and paste«.

Na gut, das sollte natürlich die Ausnahme sein. Die Geschichte gibt es schon in »Nach Diktat verreist«. Aber lustig ist es schon…

Weil 2016 so ein Scheißjahr war, steige ich jetzt aus und strenge mich semantisch erst wieder 2017 an. Prösterchen!!!



BERLIN

Ich finde es schwierig, über die eigene Stadt zu schreiben. Das liegt in erster Linie daran, dass ein Blick von außen immer besser ist und zu interessanteren Ergebnissen führt. Außerdem ist mein Aktionsradius mittlerweile nicht viel größere als der eines Bierdeckels. Trotzdem will ich es mal versuchen, es gibt halt irgendwie eine Menge über das dicke B. zu räsonieren.

Die Entstehung und Historie Berlins sind mir egal. Die Teilung der Stadt und die völlig absurde politische Situation im Nachkriegsdeutschland bis zum Mauerfall spielen hier keine große Rolle. Die Zeit zwischen 1961 und 1989 wird sicherlich nur eine Nebenrolle spielen. Die Insellage West-Berlin, David Bowie, Nick Cave und Konsorten waren in den 70ern und 80ern wichtig. In diesem Text sind sie es nicht!
Das Bild des Deutschen im Ausland hat sich in den letzten Jahren massiv geändert, und zwar nicht gerade zum Nachteil. Das ist ganz schön. Immerhin haben dann auch die Menschen in Altötting und Castrop-Rauxel was davon. Wenn man aber jemandem im Ausland davon berichtet, dass man aus Berlin kommt, löst das oft »Schnapp-Atmung« oder zumindest so große Erregung aus, dass man manchmal Angst hat, dass sich sein Gegenüber gleich einnässt. Warum?
Der Grund für die inländische Anziehungskraft der Stadt hat vielfältige Gründe. Und die sind offenbar so stark und weit verbreitet, dass sich mittlerweile schon wieder eine Gegenbewegung formiert hat. Denn nicht ohne Grund singen »Kraftklub« aus Chemnitz »Ich will nicht nach Berlin«. Weil aber »Hinz und Kunz« ins dicke B. ziehen wollen, kann man durchaus die etwas plakative Aussage treffen: »Triff in Berlin mal einen Berliner!« Es ist kein Ding der Unmöglichkeit, aber manchmal stimmt es tatsächlich, wenn jemand behauptet: »Ich kenne zumindest jemanden, der jemanden kennt.«
Die besondere Situation West-Berlins vor dem Fall der Mauer wird momentan in vielerlei Beziehung etwas näher dargestellt. Es gibt eine ganze Reihe von Filmen, ob Dokumentation oder Spielfilm, dazu jede Menge Bücher, mit Bildern oder ohne. Was damals eine große Rolle spielte und sich eigentlich bis heute gehalten hat, ist Folgendes: In Berlin findet nur ein absolutes Mindestmaß an »Deutschland« statt. Das war insbesondere vor dem Mauerfall im Westteil der Stadt so, weil es hier (natürlich) keine Wehrpflicht gab. Das zog eine Menge Leute an, die schlichtweg keine Lust auf den geprobten Verteidigungsfall in Uniform hatten. In »West-Deutschland« gab es wenige Möglichkeiten, sich dem komplett zu entziehen. Ein Umzug nach West-Berlin war da ganz hilfreich. Man kann wohl soweit gehen, und behaupten, dass es sich bei diesen Menschen nicht gerade um die angepassteste Spezies handelte. Aber weit darüber hinaus hatte Berlin eine ziemlich große Anziehungskraft für Menschen, die sich ausprobieren oder irgendetwas auf die Beine stellen wollten, ohne großen wirtschaftlichen oder ideellen Druck zu haben.
Noch heute eilt dem dicken B. der Ruf voraus, dass die Stadt »unfertig« sei. West-Berlin war in den 80ern nicht nur unfertig, sondern in weiten Teilen auch total »abgefuckt«. Es gab ganze Straßenzüge, denen man auf den ersten Blick nicht ansah, dass das Jahr 1945 schon lange vorbei war. Dazu kam die Insellage im roten Meer der begrenzten Möglichkeiten. Die so genannte »Zitterprämie« ist ein schönes Beispiel der damaligen Befindlichkeit. Wer sich dafür entschied, als Beamter oder normaler Arbeitnehmer von West-Deutschland nach West-Berlin zu gehen, bekam einen Zuschlag. Immerhin konnte ja jederzeit der böse Russe einmarschieren und aus dem kalten Krieg einen heißen machen. Unabhängig davon war die Stadt hochgradig subventioniert und wurde vom Westen wirtschaftlich gestützt. Auch das war sicherlich ein Aspekt, der das Leben der Bewohner nicht gerade erschwert hat. Ein bisschen muss das wie ein kleiner »kapitalistischer Eventpark«, ein »marktwirtschaftliches Lego-Land« gewesen sein. Und der Ostteil der Stadt? So mancher West-Berliner hatte schlichtweg kein Interesse daran, einen Blick hinter den antifaschistischen Schutzwall zu werfen. Das wäre für die meisten auch mit einem ziemlich großen logistischen Aufwand verbunden gewesen. Einfach mal spontan in der Hauptstadt der DDR vorbeizuschauen war für die meisten gar nicht möglich. Für viele fehlte auch der Anreiz. Es gab nicht wenige, die die andere Seite der Mauer gern als »Disney-Land für Depressive« bezeichneten. Die Mauer war quasi die Lebensversicherung für die Freiheit West-Berlins, auch wenn das auf den ersten Blick etwas seltsam anmutet. Nur in diesem abgeriegelten Biotop konnten sich Kunst und Musik so entwickeln, wie es sie in Westdeutschland nicht gab und auch nicht geben konnte. Eine »harte Tür« gab es im »Risiko« in der Yorckstraße wahrscheinlich nur, wenn »Blixa Bargeld« hinterm Tresen dafür gesorgt hatte, dass man irgendwann unter selbigem lag und sich beim Rausgehen den Kopf gestoßen hatte, weil man mal wieder völlig breit »ziehen« mit »drücken« verwechselt harre.
Davon ist heute natürlich nichts mehr übrig. Durch den Mauerfall hat sich bis weit in die Neunziger Jahre hinein eine Nische aus Techno, Rave und elektronischer Musik entwickelt, die bald zur Massenkultur wurde. Als auch in Höxter zu stumpfen Beats die Bundfaltenhose ungebügelt blieb, war jedenfalls klar, dass das alles nichts mehr originär mit Berlin zu tun hatte.
Bis weit ins neue Jahrtausend hinein konnte es durchaus passieren, dass im ehemaligen Ostteil der Stadt auf einmal die Straße zu Ende war, ein neues Haus im Weg stand oder man bei den ganzen Umleitungen ganz wuschig wurde. Da wurde so einiges nachgeholt, was im real existierenden Sozialismus 40 Jahre lang keine große Rolle spielte. Architektonisches Ziel war seinerzeit eher die »Platte« weit im Osten. Innerstädtische Altbauwohnungen entsprachen nicht dem sozialistischen, anti-bourgoisen Vorbild und waren auch noch zu dicht an der Mauer. Da wurde lieber nichts investiert. So gab es Häuser, die 1989 immer noch aussahen wie 1949.
Wenn man davon ausgeht, dass Berlin für viele Deutsche so attraktiv ist, weil es nur einen kleinen Teil des restlichen Deutschlands beinhaltet und abbildet, dann wird auch etwas klarer, warum es manchmal nicht besonders gut ankommt, wenn sich kleine provinzielle Enklaven im dicken B. bilden. Das Klischee vom »Schwaben im Prenzlauer Berg« ist sicherlich nur eines von vielen, aber vermutlich das markanteste. Was manche als »Binnenrassismus« geißeln, bekommt dann etwas mehr Tiefenschärfe, wenn man sich mal etwas genauer anschaut, welche Gegensätze dort aufeinander prallen. Klar ist, dass das Provinzielle universell ist. Allerdings sieht es etwas anders aus, wenn die Provinz in die Metropole kommt. Auch das ist generell kein Problem, denn man findet ja kaum einen echten Berliner in Berlin. Auch hier gilt, was so oft richtig ist: Die Dosis macht das Gift!
Immer dann, wenn etwas konzentriert auftritt, wird es für alle anderen schnell unangenehm: Deutsche am Ballermann auf Mallorca, sonnenverbrannte und saufende, zwanzigjährige Engländer in Australien, Spanier beim Pub-crawl in Kreuzberg und die deutsche Provinz in Berlin. »Klein-Aalen« am Helmholtz-Platz im Prenzlauer Berg empfinden viele nicht gerade als Bereicherung. Da mutet es eigentlich ganz putzig an, dass es vor vielen Jahren in der Kneipe »Enzian« von Norbert Hähnel (der wahre Heino) in der Yorckstraße regelmäßig ein »Ostwestfalentreffen« gab, bei dem ein bisschen gequatscht und viel getrunken wurde. So viel Selbstironie ist selten! Es würde manch anderem sicherlich ganz gut tun.
Warum das dicke B. bei Ausländern oft zu schwer zu kontrollierender Hechel-Atmung führt, hat viele Gründe. Zuallererst ist das die Höhe der Wohnungsmieten. Hier hat sich in den letzten Jahren viel verändert. Bei Neuvermietungen sind totale Schnäppchen mittlerweile eher die Ausnahme. Und trotzdem bedeutet es im internationalen Vergleich, dass die Lebenshaltungskosten insgesamt, mitsamt der Wohnungsmiete gegenüber Städten wie Paris, London oder New York weitaus geringer sind. Das zieht viele Leute an, die eben keine Investmentbanker sind.
Was ebenfalls eine große Rolle spielt, ist der Umstand, dass Berlin sehr liberal, in vielem fast schon libertär ist. Das fängt bei der fehlenden Sperrstunde an, geht über die ausufernde Clubkultur bis zur Nutzung der vielen Grün- und Freiflächen. Das mit dem Berliner Flughafen ist natürlich nicht so toll; aber immerhin gibt es das ehemalige Flugfeld des Flughafens Tempelhof, auch wenn da nur Drachen abheben.
Auch die Berliner Politik hat kapiert, dass andere Menschen nicht nach Berlin kommen, um zu kontrollieren, ob die Hauswoche eingehalten wird. So etwas findet meist woanders statt. Man kann sich guten Gewissens lustig machen über langbärtige Hipster, die meinen, dass sie hier irgendwelche »Projekte« verfolgen wollen. Aber nach Aaalen würden sie nicht gehen! Deshalb sollte man sich mal nicht zu weit aus dem Fenster hängen.
Die Stadt lebt von diesem kreativen Potential. Und als Bürgermeister Klaus Wowereit vor einigen Jahren die trefflichen und prägnanten Worte sagte: »Berlin ist arm, aber sexy!«, dann ist davon wohl nur noch letzteres uneingeschränkt richtig. Geld wird immer noch verschleudert. Über die Eröffnung des neuen Flughafens denkt man lieber nicht weiter nach. Ein Satireportal im Internet verbreitete neulich die »Nachricht«, dass man die Baustelle jetzt unter Denkmalschutz stellen werde. Je länger man darüber nachdenkt, desto weniger absurd ist der Inhalt der Ankündigung.
Und trotzdem: Man konnte vor ein paar Jahren noch mit Fug und Recht sagen: Das Einzige, was hier läuft, ist die Kaffeemaschine in irgendeinem Café in Mitte. Das freut zwar alle »Mittomaten«, stimmt aber nicht mehr so ganz. Denn nicht nur Hipster mit viel Bart und wenig Ahnung werden angezogen. Im Laufe des letzten Jahrzehnts hat Berlin einen großen Gründerboom erlebt. Das geht mittlerweile so weit, dass der Bereich um die »Schönhauser Allee« schon als »Silicon Alley« bezeichnet wird. Wer nichts wird, wird Gründer eines Start-Up! Damit verbunden ist eine handfeste Infrastruktur, die weit über die Bezeichnung der »digitalen Bohème« hinausgeht. Im Jahr 2000 ist die so genannte »DotCom-Blase« geplatzt. Seit einigen Jahren ist im dicken B. wieder die Luftpumpe zur Hand.
Was aber geblieben ist und wahrscheinlich auch für lange Zeit so bleiben wird, ist die typische Unfreundlichkeit der Berliner. Lustigerweise wird das von den meisten Zugezogenen aufgesogen. Man erlebt viel Lokalkolorit, was auch im dicken B. erhalten bleibt. Aber die ständige Nörgelei, Motzerei und eine gewisse Misantrophie werden schnell Teil der eigenen Persönlichkeit. Keine Ahnung, was gemeint ist? Ich empfehle eine Busfahrt im innerstädtischen Bereich. Wenn das noch nicht reicht, dann kann man den Busfahrer ja mal während der Fahrt von hinten ansprechen. Sollte man das überleben, hat man jedenfalls einen dauerhaften Eindruck, welchen »Vibe« die Stadt so haben kann. Jeder durchschnittliche Japaner fällt wahrscheinlich in Ohnmacht vor soviel unfreundlicher Direktheit. Auch der ein oder andere Amerikaner ist nachhaltig irritiert, wenn er in einem Café in der »Servicewüste« Berlin lautstark dazu aufgefordert wird, gefälligst nicht mit vollem Mund mit einem zu sprechen. Auch ein kaugummi-kauender Gast wird mitunter etwas unfreundlich behandelt. Wenn er oder sie dann englisch vor sich hin flucht, kommt meist zur Geltung, dass Berlin eben eine ziemlich internationale Stadt ist. »I understand your fucking language!« Dann ist das Kind in den Brunnen gefallen. Und wenn er dann zum Ausgang stürmt, schickt man am Besten noch ein gut hörbares »Glad to see you go!« hinterher.
Den sieht man definitiv nie wieder! So what!?!




WWW (Wöchentlich Wabernde Weisheiten)

Belgien ist eine wundervolle Stadt. (Donald Trump)


Bücher:

Salto Musicale, Roman 2012
Gib Pfötchen, Arschloch!, Erzählungen 2013
Phase C, Roman 2014
Nach Diktat verreist, Essays, 2015